Bei meinem nunmehr zweiten Aufenthalt in der Stadt des ewigen Frühlings treffe ich alte Bekannte, neue Freunde, tauche tiefer ab in die durchaus beeindruckende Geschichte der Stadt, aklimatisiere mich an nicht-karibik Wetter und langweile mich auch ein bisschen. Medellín hat einiges zu bieten.

Aus der Karibik kommend ist Medellín der perfekte Ort um sich von der alles erdrückenden Hitze dort an ein milderes Klima zu gewöhnen. Das ganze Jahr über herrschen zwischen 25 und 30 Grad, gelegentlich durch Wolken und mehr oder weniger kurze Regenschauer durchbrochen ist auch mal eine lange Hose notwendig. Aus dauerhaft 30-37 Grad kommend können auch 25 Grad kalt wirken und so fror ich gelegentlich ein bisschen. Irgendwie wollte sich aber bei meinen Freunden in Deutschland, Ende November, kein rechtes Mitleid einstellen. Verstehe ich gar nicht.
Abgesehen von diesen kleinen Unannehmlichkeiten geht es direkt wieder rein ins Getümmel der 2 Millionen Einwohner Stadt. Und weil ich das letzte mal keinen Eintrag zu Medellín verfasst habe ist das hier ein Komposit meiner beiden Aufenthalte.
Dunkle Vergangenheit
Eines vorweg, damit es aus dem Weg ist. Ja, dies ist die Stadt, bekannt aus Film und Fernsehen, die in den 80ern und 90ern bekannt war für ihre exzessive Gewalt und als Zentrum des Drogenexports galt. Anfang der 90er Jahre lag die Mordrate pro 100.000 Einwohner bei knapp 400 Menschen, womit Medellín die mit Abstand gefährlichste Stadt der Welt war. Zum Vergleich hat die heute gefährlichste Stadt der Welt eine Mordrate von etwa 130 Menschen Pro 100.000 Einwohner. Es war also wirklich gefährlich hier und auch wenn sich sensationsheischend leicht behaupten lässt, dass das alles nur aufgrund dieses einen Drogenkartells zustande kam und in einigen Touren fürs besonders sensationsgeile Publikum Daten Zahlen und Fakten aufgebläht werden, dann ist das doch nicht ganz die Wahrheit.
Es ist leicht an eine der Touren zu kommen, die diese Vergangenheit glorifizieren, durch die Nachbarschaft laufen, die den Namen des ehemaligen Anführers trägt und sein Grab besuchen um dort Bilder zu machen, die zum Fremdschämen sind, wenn man sich auch nur 5 Minuten mit dem Leid befasst, welches seine Geldgier über Land und Leute brachte. Es ist genau diese Glorifizierung, die mich abschrecken lässt mich mit diesem Teil der Vergangenheit näher zu beschäftigen.
Die Transformation
Es gibt hier aber auch Touren, die zwar offen mit der Vergangenheit der Stadt umgehen, ohne diese aber zu glorifizieren und das Geschehene in einen Kontext Einordnung, der ein viel spannenderes und ganzheitliches Bild der Stadtentwicklung gibt. Wie so häufig gab mir mein allseits bereister Reisefreund Koustabh, den ich damals auf Kuba kennenlernte, auch für Medellín einen hervorragenden Tipp. Er empfahl mir die Real City Tours durch die Innenstadt und pries sie als eine der besten Touren an, die er je mitgemacht hat. Und damit hat er nicht übertrieben.
Auf gut 3,5 Stunden Spaziergang durch die Innenstadt mit Julio unserem Guide, geht es nicht nur darum, dass vor 30 Jahren keiner von uns hier hätte langgehen können ohne einem Verbrechen zum Opfer zu fallen, sondern welche Schritte unternommen wurden um diesen Misstand zu beheben. Wir erfahren von der Gewalt, die diese Straßen beherrschten, warum die Kartelle so einfaches Spiel hatten sich in den Rückhalt der Bevölkerung zu sichern und das der Weg aus dem Zyklus der Armut und der Gewalt Bildung war (und ist).
So fing die Stadt an Bibliotheken zu bauen und damit den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Es folgten soziale Projekte und Schulen. Kostenlose, niedrigschwellige, Bildungsangebote an Menschen jeden Alters. Soziale Reformen und eine kostenlose Schulbildung auf staatlicher Ebene taten ihr übriges. Der Wandel, der sich durch diese Änderungen ergab, wird in Medellín „La Transformación“ – „Die Transformation“, genannt. Das Ergebnis dieser harten Arbeit kann sich sehen lassen. Die einst so hohe Mordrate sinkt innerhalb einer Dekade auf einen Niedrigstand und ist heute in etwa auf einem Wert, den man von einer Stadt dieser Größe erwartet. Die ehemaligen Ruinen, aus denen der Drogenexport einst organisiert wurde, beherbergt heute ein Bildungszentrum und wurde Grundsaniert. In Stadtteilen wie Poblado, nisten sich die digitalen Nomaden aus Nordamerika ein (Mehr dazu gleich). Haufenweise Touristen besuchen die wunderschöne Stadt mit ihrem schönen Wetter und ihrem vielen Grün.
Es ist tatsächlich beeindruckend an einem dieser Orte zu stehen, an dem sich innerhalb einer Lebenszeit so viel zum positiven gewandelt hat. Eine wirklich außerordentliche Leistung.

Wer einmal in der Stadt ist, sollte sich auf jeden Fall die Zeit für diese, auf Englisch geführte Tour, nehmen.
El Poblado

Als ich im April das erste Mal hier ankomme entscheide ich mich, gegen den Rat meines Spanischlehrers José, im Stadtteil Poblado ein Hostel zu suchen. Es lag direkt neben dem städtischen Flughafen und die Hostels hatten alle hervorragende Bewertungen.
Das böse Erwachen ließ dann nicht lange auf sich warten. Schon bei Betreten des Viertels fällt schnell auf, dass die Dichte an weißer, ungebräunter, Haut ungewöhnlich stark ansteigt. Die bleichen Beinchen werden geziert von noch weißeren, bis zum Anschlag hochgezogenen Tennissocken, deren Füße sich mal in Sneakers, mal aber auch in Sandalen, oder, noch schlimmer, Adiletten befinden. Nach oben schauend werden sie gefolgt von hippen Shorts, einem, meist weißen, T-Shirt, das mehr oder weniger durchtrainierte Arme aus sich ragen hat und aus dessen oberen Ende ein Gesicht schaut, das voller Stolz und absolut unironisch einen Schnauzer trägt. Keinen vollen 80er Jahre Magnum Schnauzer (der ebenfalls nicht in Ordnung wäre), nein, so ein über Monate hinwucherndes Fleckchen Haar, das eigentlich Mitleid beim Betrachter erregen sollte. Dessen Träger wiederum demonstriert, ob seiner Willenskraft auch dort Haar sprießen zu lassen wo keines sprießen will, einen Stolz, der der Gesamtsituation nicht angebracht ist.
Die Inhaber dieser Schenkelschmeichler, sind irgendwo zwischen 20 und 30 Jahre alt und während die Meisten es bei der Verfehlung zwischen Nase und Mund belassen, haben andere jegliche Schamgrenze fallen lassen und sich entschlossen ihre Gesichtsentstellung durch einen passenden Fokuhila zu komplettieren. Diese schwer anzuschauenden Gestalten tragen stets einem Laptop bei sich, sind irgendwie immer ein bisschen zu Stolz auf ihr aussehen und etwas zu laut in Konversationen. Sie sind der Grund dafür, dass man in El Poblado etwa das doppelte für einen Kaffee, ja für alles, bezahlt und wegen denen man dort eigentlich immer auf Englisch angesprochen wird.
Der nordamerikanische digitale Hipster-Nomade hat Poblado übernommen. Er hat sich dort eingenistet und wird wohl so schnell auch nicht wieder verschwinden. Und während man im Rest des Landes „Siete Mil Pesos“ (7.000 Pesos) für einen Kaffee bezahlt, erwidert der Kellner in El Poblado auf die Frage nach dem Preis “ Twenty K, Bro“. Das Bro, darf hier allgemein in keinem Satz fehlen. Jeder ist Bro und alle sind wir Bros, hier in unserem geilen Stadtteil, der vor Schnauzer-Bros nur so wimmelt. Diesen zu verlassen und ein etwas nativeres Kolumbien zu erleben ist freilich nicht auf der Agenda der Bros von Poblado, die in ihren Hostels Schlafplatz, Arbeitsplatz und Bar mit Pool auf der Dachterrasse vereinen. Und die, wenn überhaupt, vom Hostel per Uber zur etwa 1 km entfernten Partymeile von Poblado fahren um dort Stolz ihren Flusenteppich im Gesicht präsentierend durch die Nacht zu flanieren.
Ich finde es widerlich hier. Sicherlich gut für die Einwohner, die Mieteinahmen haben, sicherlich gut für die Stadt, die mehr Geld für ihre Projekte hat. Mich spricht es hier aber überhaupt nicht an. Fremdschämend verbringe ich meine zwei Nächte hier und fahre dann weiter nach Laureles. Es ist noch immer ein wohlhabender Stadtteil, der auch immer noch von Tourismus profitiert, aber zumindest zieht ein Schnauzer hier die erstaunt irritierten Blicke auf sich, die ihm gebüren, Bro ist nicht die übliche Ansprache und allgemein sind mehr Kolumbianer in den Straßen anzutreffen.
Comuna 13


Wer sich, wie ich, maximal oberflächlich erkundigt, was es so in der jeweiligen besuchten Stadt zu erkunden gibt, wird in Medellín schnell auf Comuna 13 stoßen. Auch hier gibt es eine Vielfalt an Free Walking Tours. Ich habe zwei gemacht, eine im April und eine dieses Mal. Beide hatten einen leicht anderen Fokus und keine von beiden hat mich sonderlich überzeugt.
Im April wurde die Tour von einer Dame geführt, die in einem Land, in dem nur die maximale Lautstärke eine Option bei der Bedienung von Musikanlagen ist, das Flüstern für sich entdeckt hat. Es war unglaublich schwer ihr zuzuhören oder auch nur wahrzunehmen, dass sie überhaupt gesprochen hat. Das war sehr schade, denn den Teil, den ich mitbekommen habe, fand ich sehr interessant. Leider wurden wir dann aber irgendwann auch nur noch von Laden zu Laden geschubst, wo wir dies oder das kaufen sollten. Die zweite Tour konzentrierte sich mehr auf die Street Art und ließ dabei einen Großteil der spannenden Geschichte einfach aus.
Besiedlung und Benachteiligung
Worum geht es hier also (im schnelldurchlauf)? Die Comuna 13 war neben dem Zentrum der gefährlichste Stadtteil der gefährlichsten Stadt der Welt. Benachteiligte Afro-Kolumbianische Siedler bauten in den 50/60 er Jahren diesen Stadtteil an den Rand der Stadt und weil sie fernab von allem waren und auch in der Gesellschaft strukturell benachteiligt wurden, war das Leben schwer für die Bewohner. Als in den 80ern der Export von Drogen aus der Stadt immer wichtiger für die Kartelle wurde, übernahmen sie diesen Stadtteil, der an einer strategisch wichtigen Route lag. Es folgte mehr Kriminalität und Gewalt.
Die Guerilla
Als dann Anfang der 90er das Kartell in Medellín unter Druck geriet versuchte das kolumbianische Militär auch die Comuna 13 wiederzubekommen, scheiterte daran aber. Man fragte eine Guerilla Einheit ob sie dies wohl übernehmen könnte, da sie mit den Kartellen verfeindeten waren. Diese Guerillas halfen gerne aus und als sie den Stadtteil für sich erobert hatten, stellten sie fest, dass es sich hier doch ganz hervorragend Drogen schmuggeln ließ und da die alten Bosse gerade aus der Stadt vertrieben waren, füllten sie das Vakuum bereitwillig aus.
Dabei waren sie keineswegs besser als die vorherigen Herrscher. Unsere Führerin erzählt Geschichten von getöteten, die den Berg hinabgerollt werden und am Eingang des Stadtteils abgelegt werden. Manchmal, so sagte sie, wurden scharfe Handgranaten unter die Leichname gelegt um die Leute und die Polizei am wegräumen zu hindern, bzw. eine zweite Welle der Gewalt zu provozieren. Die Opfer waren natürlich nicht zwangsläufig nur Teilnehmer des Konflikts. Es kamen auch Kinder und Alte um.
Das Militär
2003 dann wollte der kolumbianische Staat endgültig die Guerilla aus der Stadt entfernen und schickte in einer Reihe äußerst kontroverser Operationen das Militär abermals in die Comuna. Mit Anti-Panzer Munition wurde wahllos über mehrere Tage aus Hubschraubern und Anti Tank Panzern auf das Viertel geschossen. Wir reden hier von einem Stadtteil einer Millionenstadt, das mehrere Tage unter Beschuss stand. Katerin, Josés Frau erzählt mir später, wie sie in einem der benachbarten Viertel aufwuchs und wie man den Lärm über Tage in der ganzen Stadt hörte. Im Viertel selber kamen wahllos Bewohner durch die Operation ums Leben und die die es überlebten konnten teils tagelang ihre Häuser nicht verlassen. Nach mehreren, MEHREREN, solcher Operationen wurde das Viertel schließlich erobert.


Damit aber nicht genug, denn zu dieser Zeit gab es in der kolumbianischen Armee ein Anreizprogramm, nach dem es pro erschossenen Narco oder Guerilla einen monetären Bonus gab. Wer also in der Folgezeit komisch aussah, das falsche sagte, machte, tat oder einfach Pech hatte, wurde vom einem Soldaten einfach für eine Kopfgeldprämie erschossen. Diese absichtlich falsch identifizieren nennt man „falsos positivos“ und sind gemeinsam mit den Militäraktionen ein Skandal, der bis heute Nachwirkungen hat und seinen Höhepunkt in den jahren 2005 – 2009 hatte. Also als ich zur Uni nach Aberdeen aufgebrochen bin. Gestern quasi.
La Transformación
Da die Bewohner ganz oben am Berge der Comuna 13 faktisch keine Möglichkeit hatten am Wandel teilzunehmen, da sie gar nicht erst von ihrem Berg runter kommen konnten, entschied man sich für eine eigensinnige Lösung. Eine der für Kolumbien typischen, aber erstmal etwas verrückt klingenden, Lösungen. Man baute die weltweit größte außenliegende Rolltreppenanlage auf den Berg um allen den Auf- und Abstieg zu ermöglichen.
Die Einschusslöcher in den Häuserwänden wurden zugemacht und die Stellen mit Graffitis bemalt, die die Comuna repräsentieren sollen.





Die ersten Touristen kamen. Street Art wurde zu einem Verkaufsschlager und heute ist, zumindest der Teil um die Rolltreppen herum, derart kommerziell ausgebaut, dass in dem Stadtteil, in dem noch vor 15 Jahren wahllos Menschen erschossen wurden, tagtäglich tausende Touristen durch die Straßen geschoben werden. An diesem Ort zu stehen und sich wirklich zu vergegenwärtigen welcher enormer Wandel sich hier in kürzester Zeit vollzogen hat, lässt einen mit anerkennendem Staunen zurück.
Ich, ich entdecke hier meine Liebe zu Afro-Kolumbianischer Kunst mit seinen Prallen Farben, die intensiv leuchten und kann mich gar nicht sattsehen an all den schönen Bildern.






Im Januar, werde ich wieder zurück kommen, mit Stefan. Julio, der Tourguide der Tour, die ich Eingangs erwähnte, gibt hier Privattouren die, wie er sagt, abseits des Gringo Pfades, sind. Mit noch mehr sozialpolitischen Hintergrund. Und weil ich mir im April seine Nummer nicht aufgeschrieben habe, habe ich mich dieses mal extra aufgemacht, ihn bei den Touren durch die Innenstadt zu finden und mir seine Kontaktdaten geben zu lassen.
José & Katerin
Neben all den Touren, der spannenden Geschichte und der netten Leute, die ich Hostel kennenlerne, fahre ich auch José besuchen. Er ist mein erster Spanischlehrer gewesen und hat mir über unsere gesamte Zeit konstant den Floh von Kolumbien im Allgemeinen und Medellín im Besonderen ins Ohr gesetzt. Bevor wir uns kannten, war Kolumbien für mich dieses Land das wegen der Drogen bekannt war und irgendwie gelegentlich mal auf meiner Kubareise thematisch auftauchte. Das ich nun so viel Zeit hier verbringe, hat sicherlich auch an seinem Einfluss gelegen, sodass ich mich freue ihn und seine Frau Katerin zuhause besuchen zu können. Wir machen Empanadas mit viel Käse und Champignons. Es ist interessant das Haus in echt zu sehen, dass ich sonst nur aus der Kameraperspektive des Unterrichts kenne. Wir verbringen einen schönen Abend und ich kann meinen großen Koffer bei den beiden lassen. Ab jetzt geht es nur noch mit Handgepäck durchs Land.
Zumindest bis Ende Januar, wenn ich erneut wiederkomme in diese Stadt, die so viele spannende Geschichten zu erzählen hat. Es gibt da noch die Leute vom Müllberg, die dort bis heute wohnen, die Skulpturen Boteros, eine Kaffeefarm und so vieles mehr.